Vielfalt

Impuls zum 2. Sonntag nach Trinitatis von Pfarrer, Dr. Sebastian Molter, Vaihingen

Die Schriftstellerin Barbara Honigmann beschreibt in ihrem Roman „Chronik meiner Straße“ die Rue Edel am östlichen Ende der Straßburger Innenstadt. Sie zog erst als erwachsene Frau Anfang der 1980er Jahre aus Ost-Berlin mit ihrer Familie in diese kurze, schmucklose Straße. Vielleicht staunt sie daher mehr als die anderen Bewohner der Rue Edel über alles, was sich dort abspielt. „Wenn wir sagen, daß wir in der Rue Edel wohnen, antwortet man uns meistens, ach ja, da haben wir am Anfang auch gewohnt. Unsere Straße scheint also eine Straße des Anfangs und des Ankommens zu sein, bevor man nämlich in die besseren Viertel umzieht […]“.

Honigmann nennt die Rue Edel schmucklos: „Bäume oder Sträucher oder sonst etwas Grünes gibt es in unserer Straße nicht […]. Viele Völker wohnen in unserer Straße, und man hört sie in vielerlei Sprachen sprechen“ (Aus: Barbara Honigmann: Chronik meiner Straße, München 2015). Letzteres war auch der Grund, weshalb sich Barbara Honigmann in die Straße verliebt hat und bis heute nicht weggezogen ist.

Ich selbst habe von Juli 2017 bis Juli 2018 in einer winzigen Parterrewohnung in der Rue Edel gewohnt. Mir war die Straße tagsüber zu laut, nachts zu ruhig und vor allem zu dunkel und zu hässlich. Wie viele andere Neu-Straßburger bin ich später in ein anderes Viertel gezogen und habe es letztlich doch bereut. Hat mich der Lärm am Tag je gestört? War nicht die Ruhe nachts ganz wohltuend? Und war nicht das bunte und multikulturelle viel schöner als fünf Minuten kürzer Fußweg zum nächsten Park? Ich habe die Rue Edel später vermisst.   

Der zweite Sonntag nach Trinitatis hat die Vielfalt in den christlichen Gemeinden zum Thema. Wir singen das Wochenlied „Kommt her, ihr seid geladen“. Manchmal fehlt die Vielfalt in christlichen Gemeinden, oft wird sie aber auch gar nicht wahrgenommen. Ohne den kunterbunten Haufen, der jetzt schon zur Kirche gehört zu sehen – mancher oder manche freilich in gewisser Distanz zur Gemeinde -, wünschen sich Gemeinden oft eine ganz bestimmte Gruppe stärker anzusprechen: die jungen Erwachsenen, die gerade „mitten im Leben“ stehen.

Aber „mitten im Leben“, das sind doch alle! Und gerade die Kirche kann das voller Überzeugung aussprechen: „Kommt her, ihr seid geladen“. Manche Gemeinden sind vielleicht wie die Rue Edel. Ein bisschen älter, die Häuser abgewohnt und nachts passiert nicht mehr viel. Und viele Bewohner wollen nur so halb dazugehören, grüßen ab und zu, aber halten sich ansonsten zurück. Aber nach dem Umzug in eine schickere Straße, wo alle jung und aktiv sind und jeder jeden kennt, werden wir dann vielleicht denken: Wo bleiben die, die bisher nur so halb dazugehört haben, die nie so richtig angekommen sind und den Sprung in die schickere Straße nicht geschafft haben? Sie fehlen. Hoffentlich bleiben wir auch bei ihnen. Auch sie sind geladen. Amen.   

Pfarrer Dr. Sebastian Molter, Vaihingen